Geborgenheit

Im Heim daheim sterben

Beitrag anlässlich der Wanderausstellung «Zuhause sterben», 17. – 21. September 2024 in Altdorf
©Rosenberg Altdorf, Konzept, Umsetzung und Gestaltung Bettina Buser
Eine Pflegefachfrau, eine Seelsorgerin, und eine Fachfrau Langzeitpflege und Betreuung berichten von ihren Erfahrungen und darüber, was sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern über das Sterben und über das Leben gelernt haben.

Sterben sei etwas sehr Persönliches, Individuelles. Gibt es doch Dinge, die für alle Bewohnenden gleich sind?

Der Weg zum letzten Atemzug
Manuela Imhof: Sterben müssen wir alle, aber der Weg bis zum letzten Atemzug ist so verschieden, wie wir es zu Lebzeiten sind. Insofern kann ich dieser Aussage völlig zustimmen. Für alle ist wichtig, dass wir von der Pflege für sie da sind und sie liebevoll und in guter Atmosphäre begleiten. Das braucht manchmal gar nicht viele Worte. Wenn Bewohnende und Angehörige uns ihr volles Vertrauen schenken können, hilft dies auf dem Weg in den Tod. Sind sich Bewohnende und Angehörige nicht einig oder zerstritten, wird es auch für uns Pflegende anspruchsvoll.

Gabriela Kalbermatten: Am Ende des Lebens schauen fast alle Menschen auf ihr Leben zurück und die Frage taucht auf, ob ihr Leben einen Sinn gemacht hat und wohin es nach unserem Tod führt.  Es ist mir wichtig, den Bewohnerinnen und Bewohnern zu vermitteln, dass ich sie gerne auf diesem Weg begleite, wenn sie es wünschen und dass ich genauso unwissend bin wie sie. Ich versuche, mit ihnen zu glauben und zu vertrauen, dass alles gut kommt. In den Gesprächen ist es mir sehr wichtig, den Blick auf das Gute zu lenken und das, was schiefgelaufen ist, getrost loszulassen. Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner auf das zurückblicken, was in ihrem Leben gut gelaufen ist und dass wir auf einen gütigen und lebensspendenden Gott vertrauen können, kommt es immer wieder vor, dass die Stimmung von Angst und Sorge in Ruhe umschwingt. Für kranke, unruhige oder ängstliche Menschen ist es wertvoll, einfach nur still da zu sein.

Doris Inderkum: Das Sterben ist meiner Meinung nach etwas sehr Persönliches. Das gelebte Leben ist dabei sehr entscheidend. Nach der deutsch-amerikanischen Gerontologin Naomi Feil ist die Lebensaufgabe im hohen Alter das Aufarbeiten des gelebten Lebens. Dabei kommen viele Gefühle hoch. Menschen, die im Glauben gelebt haben kommen ins Zweifeln ob sie genug für ein gutes Leben getan haben. Andere Menschen fürchten sich, da sie keinen Glauben haben. Es gibt aber auch Menschen die dieses Thema verdrängen. Streit, Unstimmigkeiten und verschiedene Meinungen zum Heimeintritt in der Familie sind immer sehr belastend für die Sterbenden und die Pflege. Sterben und Tod sind immer ein Thema und die Bewohnenden dürfen ihren Weg gehen. Ich habe Menschen erlebt, die sich zum Thema immer wieder Gedanken machen. Der Auslöser dazu ist oft, wenn jemand stirbt den sie kannten, jemand aus der Verwandtschaft, Freunde, Bekannte aber auch Mitbewohnende oder beim Lesen von Todesanzeigen.
Sie suchen in ruhigen Momenten das Gespräch mit der Pflege. Die meisten sind sich bewusst, dass sie auf dem letzten Wegstück sind und haben oft ihre Wünsche zum Thema bei den Angehörigen und der Pflege deponiert.
Das Geheimnis des Todes beschäftigt in einem Alters- und Pflegeheim alle, Bewohnende wie Pflegende. Das nicht wissen was sein wird.…

Welche Fragen und Wünsche beschäftigen die Bewohnenden, wenn es auf das Sterben zugeht?

Akzeptanz
Kalbermatten: Für Frauen und Mütter ist es oft schwierig, ihre Familie loszulassen. Sie sorgen sich, ob alles gut geht, wenn sie sterben und ob sie alles richtig gemacht haben. Männer denken oft auch an ihren Erfolg und Misserfolg in ihrem Arbeitsleben und an ihre Stellung in der Gesellschaft zurück und ob sie das verwirklicht haben, was sie sich wünschten. Unfrieden in der Familie und erlittene Ungerechtigkeiten beschäftigen sterbende Menschen und erschweren das Loslassen. Die Zusicherung, dass «alles gut wird», ist für Menschen, denen das Loslassen schwerfällt, sehr wichtig.
Bewohnerinnen und Bewohner, die ihr Leben lang religiös gelebt haben, wünschen sich in der Regel, dass eine Seelsorgerin oder ein Seelsorger mit ihnen betet und ihnen die Kommunion bringt, die für sie eine Begegnung mit Christus bedeutet. Meistens bitten die Angehörigen der Sterbenden um die Krankensalbung. Dieses Sakrament, das von einem Priester gespendet wird, soll die Begegnung mit Gott spürbar machen und Kraft, Trost und Geborgenheit schenken. Erstaunlich ist, dass Gebete und religiöse Rituale als Gottesbegegnungen so tief verinnerlichte Erfahrungen sind, die nicht auf der kognitiven Ebene ablaufen, so dass sie auch bei schwerer Demenz bei den Menschen Ruhe auslösen können.

Inderkum: Die Wünsche für die letzte Lebensphase sind sehr unterschiedlich. Nicht alle Menschen können oder wollen diese äussern. Einige möchten sich gar nicht damit auseinandersetzen, andere haben sehr klare Vorstellungen, wie sie ihr Sterben gestalten möchten und kommunizieren diese detailliert. Manchmal gelingt es den Bezugspersonen in der Pflege, die Wünsche zu erfahren, oder wir erfahren sie über die Angehörigen. Es sind immer sehr vertrauliche Gespräche.

Imhof: Ich höre oft die Fragen wie: „Wie geht es weiter?“, „Werde ich Schmerzen haben?“,  „Werden meine Angehörigen akzeptieren, wenn ich nicht mehr essen und trinken möchte?“ Diese Angst, die Angehörigen zu enttäuschen, lese ich manchmal in ihren Augen. Aber auch die Angehörigen haben viele Fragen und Sorgen. Für sie ist es oft schwierig zu verstehen, wenn die Sterbenden nicht mehr essen und trinken wollen und sie sorgen sich, dass die angehörige Person Hunger, Durst oder Schmerzen haben muss. Wir versuchen dann zu erklären, dass dies bei Sterbenden nicht mehr so ist.
Was die Angehörigen selbst betrifft, ist die Angst da, einsam zu sein oder nicht mehr gebraucht zu werden. Gerade für Angehörige, die sich rund um die Uhr gekümmert haben, fällt eine grosse Verantwortung und Aufgabe auf einen Schlag weg.

Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Sterben daheim und Sterben im Heim?

Dankbarkeit
Kalbermatten: Aus meiner Sicht kommt es vor allem darauf an, für das Sterben eine gute, liebevolle und vertraute Atmosphäre zu schaffen. Sich geborgen zu fühlen und nicht alleine zu sein ist das Wichtigste. Das geht zuhause und im Heim. Als mein Vater im Heim gestorben ist, habe ich meinen Vater und mich gut aufgehoben gefühlt. Ich war dankbar um die fachliche Hilfe und die gute Betreuung, die mir abgenommen wurde.

Inderkum: Das höre ich oft. Angehörige sind froh über das fachlich kompetente Netz von Pflege, Sterbebegleitung und Seelsorge, aber auch über die Gemeinschaft und wohltuende Angebote für die Sterbenden, wie zum Beispiel eine Aromatherapie oder ein angenehmen Raumduft. Sie schätzen es, einfach Angehörige sein zu dürfen und die Gewissheit zu haben, dass ihr geliebter Mensch liebevoll umsorgt wird und nicht alleine sterben muss.

Imhof: Wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner im Sterben, wir sagen in der terminalen Phase, liegt, bereiten wir alles vor: wir informieren die Angehörigen, treffen Abklärungen, verabreichen die verordneten Medikamente, sorgen für eine ruhige, besinnliche Atmosphäre im Raum und orientieren uns dabei an den Wünschen der Sterbenden und der Angehörigen. Wenn sich der Sterbende nicht mehr verbal ausdrücken kann, versuchen wir zu spüren, was er braucht: sei es ein leichter Positionswechsel, Mundpflege, eine Berührung, ein frisch aufgeschütteltes Deckbett oder einfach alleine zu sein.
Die vorhin erwähnte Aromatherapie wenden übrigens auch Angehörige selbst gerne für ihre Lieben an. Sie massieren einige Tropfen Öl auf der Hand der Sterbenden ein oder legen sie aufs Taschentuch geträufelt aufs Kopfkissen. So etwas kann man auch gut zu Hause machen. Je nach Wunsch des Bewohnenden, der Angehörigen, oder wenn wir in der Nacht Unterstützung brauchen, weil jemand sehr unruhig ist, rufen wir eine Sterbebegleiterin für die Sitzwache hinzu.

Inderkum: Oft ist der Tod der Eltern oder nahen Verwandten der erste Kontakt mit Sterben. Entsprechend gibt es viele Fragen und Unsicherheiten. Die Unterstützung der Angehörigen in der Sterbephase ist darum auch sehr wichtig.

Imhof: Ja, das stimmt. Manchmal sind die Angehörigen hilflos und mit der Situation überfordert. Dann sind wir natürlich auch für Gespräche da. Andere Angehörige sind sehr präsent und begleiten den Bewohnenden eng.
Beim Sterben daheim liegt viel Verantwortung bei den Angehörigen. Gerade wenn sie das Gefühl haben, 24 Stunden für die Sterbende da sein zu müssen und die terminale Phase lange dauert, können Angehörige an ihre Grenzen kommen. Im Heim dürfen sie Verantwortung abgeben und können sich vielleicht besser abgrenzen.
Zu Hause sind die Sterbenden natürlich wirklich im eigenen Bett mit der eigenen Bettdecke und in der vertrauten Umgebung. Bei Bewohnenden, die erst kurz im Heim sind, ist das anders. Für solche, die schon länger im Heim leben, ist ihr Zimmer nun ihr Zuhause.

Kalbermatten: Meine Aufgabe als Seelsorgerin im Heim ist es, die Bewohnenden, die das wünschen, auf ihrem letzten Weg religiös oder spirituell zu begleiten. Das mache ich in den Gottesdiensten, bei Zimmerbesuchen, in Gesprächen.
Oft suchen auch die Angehörigen das Gespräch, weil sie angesichts des Todes ihrer Lieben sprachlos werden. Meistens teilen sie die religiösen Erfahrungen ihrer Eltern nicht mehr und sind froh, wenn diese dafür eine Gesprächspartnerin oder einen Gesprächspartner finden, der sich in religiösen Fragen besser auskennt.
Es gibt auch Seelsorgerinnen und Seelsorger der Pfarrei, die Hausbesuche machen. Insofern ist eine seelsorgerische Begleitung auch zu Hause möglich.

Inderkum: Den Wunsch, zuhause zu sterben, verstehe ich als Wunsch, in einer vertrauten Umgebung und begleitet von nahestehenden Menschen zu sterben. Natürlich können und wollen sich nicht alle gleich gut in einem Heim integrieren. Ich begegne aber vielen Menschen, denen es gelingt, sich hier ein gutes Umfeld zu schaffen und Teil einer grossen familiären Gemeinschaft zu werden. Während einem Heimaufenthalt wachsen oft enge Beziehungen: zu den Tischnachbarn, den Menschen auf dem Wohnbereich, jenen mit gleichen Interessen in der Aktivierung, den Pflegerinnen und Pflegern, zur Coiffeuse. Der Tod einer Bewohnerin oder eines Bewohners ist für sie alle ein Verlust.

Kalbermatten: Jeden letzten Freitag im Monat findet in der Kapelle im Heim ein Fürbittgottesdienst statt. Dann gedenken wir jener Bewohnenden, die im letzten Monat verstorben sind und sprechen über das Abschiednehmen, das Loslassen und den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Diese Gottesdienste sind für die Bewohnenden eine wichtige und gern genutzte Gelegenheit, von den Verstorbenen Abschied zu nehmen. Auch für die Angehörigen ist es tröstlich zu erleben, wie die Mitbewohner Anteil nehmen.

Was hast du von den Sterbenden über das Sterben – und über das Leben – gelernt?

Zufriedenheit
Kalbermatten: Loslassen. Vertrauen, dass wir getragen sind. Prioritäten setzen und mich fragen, was eigentlich im Leben zählt. Leben und sterben als Geheimnis anzunehmen. Ich versuche in mir und in den Gesprächen mit den Menschen die Schönheit des Lebens dankbar zu sehen, auf die Kraft in schwierigen Momenten zu vertrauen und bereit zu sein, alles loszulassen im Vertrauen, wie Eduard Mörike sagt: «Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt».

Inderkum: Wenn ich in der Gesprächsgruppe mit dementen Menschen die Frage stelle, was im Leben wichtig ist, bekomme ich immer wieder die gleichen Antworten: Frieden, Zufriedenheit, Gesundheit und Familie. Ich kann mich dem anschliessen und für mich persönlich ergänzen mit: das Schöne sehen, sich freuen mit anderen, schätzen was man hat und nicht dem nachtrauern, was man nicht mehr kann oder hat, zufrieden sein und nicht vergleichen mit anderen, fest daran glauben, dass alles gut kommt.

Imhof: Ich habe sehr viel von ihnen gelernt. Mich erdet es, wenn ich jemanden begleiten und bis zum letzten Atemzug dabei sein darf. Um von der Verstorbenen Abschied zu nehmen hilft es mir, sie für den letzten Weg herzurichten. Wenn immer möglich gehe ich bei allen Verstorbenen vorbei, bedanke mich bei ihnen und wünsche ihnen eine gute Reise. Es ist jedes Mal ein neues und berührendes Erlebnis, jemanden in den Tod zu begleiten.
Doris Inderkum ist diplomierte Pflegefachfrau und Leiterin einer Gesprächsgruppe für Menschen mit Demenz.

Gabriela Kalbermatten ist als Seelsorgerin in einem Urner Alters- und Pflegeheim tätig und hat langjährige Erfahrung in der Seelsorge für betagte Menschen.

Manuela Imhof ist ausgebildete Fachfrau Langzeitpflege und Betreuung. Sie arbeitet als Teamleitung Nachtdienst in einem Pflegeheim.
Plakat «Im Heim daheim sterben»